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Durchstarten als Standortleiterin

Brigitte Studer – Die Schule als Schrebergarten mit ihrer Feuerstelle als Ort der Begegnung, Unterstützung und Planung. Brigitte ist seit 6 Jahren Standortleiterin an zwei Quartierschulhäusern in Steffisburg. Davor hat sie 18 Jahre lang eine 1./2. Klasse unterrichtet. Ein Gespräch über einen Neuanfang, über kleine und grosse Krisen und das Socken-Stricken als Beispiel für gelungenes Scheitern.

Brigitte, wie bist du zu deiner jetzigen Stelle in Steffisburg gekommen?

Da es in Lyss erst nicht klappen wollte mit einer Anstellung als Schulleiterin, wollte ich die Idee schon an den Nagel hängen und habe akzeptiert, dass ich meine restlichen 18 Arbeitsjahre lang weiterhin als Lehrperson wirken werde. Doch der Impuls in mir, der mich aufforderte, noch einen ganz neuen Weg einzuschlagen, blieb. So nutzte ich vor einigen Jahren meine Weihnachtsferien, um mich auf sämtliche offene Stellen im Kanton Bern zu bewerben. Ich habe mir dabei gewünscht, dass mich mein Weg nach Thun führt, da ich die Region aus meiner Freizeit kenne und über die Jahre schätzen gelernt habe.


«Meine Hypothese ist, dass Menschen besser kooperieren, wenn eine Führung da ist. Diese Rolle braucht es, damit Schule funktioniert.»
Brigitte Studer

Wie hast du den Wechsel von der Lehrperson zur Standortleiterin erlebt?

Ich fand die Herausforderungen, die sich durch den Wechsel ergeben haben, sehr spannend. Jetzt bin ich in meinem sechsten Jahr und noch immer lerne ich täglich dazu. Zudem finde ich es persönlich gut, dass ich in ein neues Kollegium gekommen bin und nicht das Kollegium führe, zu dem ich selbst jahrelang als Lehrerin gehört habe. Im Austausch mit anderen Standortleitungen habe ich aber erfahren, dass beide Arten von Wechsel möglich sind.

Wieso bist du froh, dass du den Wechsel nicht in deinem ursprünglichen Kollegium gemacht hast?

Als Schulleiterin nimmst du plötzlich eine neue Rolle ein und das kann im eigenen Kollegium schwieriger sein. Einerseits sprechen die Lehrpersonen mit mir nicht über alles, was sie im Schulalltag beschäftigt, weil sie kollegiale Unterstützung suchen. Das darf auch so sein und andererseits gibt es gewisse Situationen, in denen ich führen muss; ich sage, wo wir durchgehen und wie wir es machen. Meine Hypothese ist, dass Menschen besser kooperieren, wenn eine Führung da ist. Diese Rolle braucht es, damit Schule funktioniert.

Die Lehrpersonen kommen also bei Krisen auf dich zu. Hast du im Umgang damit mehr Kompetenzen oder hilft es schon nur, dass du in schwierige Situationen, die den Lehrpersonen begegnen, nicht persönlich involviert bist?

Ich habe im Umgang mit Krisen nicht unbedingt mehr Kompetenzen. Die Lehrpersonen kennen die Situationen viel besser; sie erleben die Kinder und Eltern täglich. Ich sehe mich mehr als Koordinatorin, die durch die Fragen, die sie stellt, und allein schon nur durch ihre Rolle, mehr Klarheit in das Ganze bringt. Ich weiss, welche Unterstützungsmassnahmen wir in Anspruch nehmen können und frage deswegen gezielt, was in der aktuellen Situation helfen würde.

Welche Verantwortung trägst du als Standortleiterin?

Grundsätzlich bin ich dafür verantwortlich, dass der Schulbetrieb läuft. Wie ich das genau mache, dabei habe ich viel Gestaltungsfreiheit. Als Schulleitung hat man viele Möglichkeiten, Schulen neu zu gestalten und ich finde, dies sollte noch besser genutzt werden. Meine Aufgaben umfassen auch die ganze Schulorganisation, das Krisenmanagement, das Begleiten von schwierigen Elterngesprächen – das alles nimmt viel Raum ein. Dass ich diese Aufgaben übernehme, entlastet die Lehrpersonen sehr. Sie wissen, dass ich als ihre Ansprechperson da bin.

Ist man als Standortleiterin ein Vorbild?

Unbedingt, ja. Ich bin ein Vorbild, indem ich mich an die Regeln halte. Aber noch wichtiger ist es, dass ich als Standortleiterin die Werte vorlebe, die mir wichtig sind. Wenn ich von den Lehrpersonen verlange, dass sie kooperative Lernformen in ihrem Unterricht einsetzen, weil ich das für die Entwicklung der Kinder und der Gesellschaft als bedeutsam empfinde, dann führe ich auch kooperativ.

Was sind weitere Aufgaben, die du als Standortleiterin hast?

Administrative Aufgaben gehören auch dazu. Zum Beispiel die Pensenplanungen für das nächste Schuljahr, die jedes Jahr viel Zeit in Anspruch nehmen. Weiter koordiniere ich Stellvertretungen, führe Mitarbeitende-Gespräche, besuche die Lehrpersonen in ihrem Unterricht und plane Konferenzen.

Ich tausche mich regelmässig mit der offenen Kinder- und Jugendarbeit und anderen Institutionen aus und arbeite mit den anderen Standortleitungen aus Steffisburg zusammen. Als Standortleitungsteam begleiten und unterstützen wir auch Anträge, die die Gesamtschulleitung an die Politik stellt. Ich sehe mich als Standortleiterin in einer Aufklärungsrolle: der Gemeindeverwaltung zeige ich auf, was wir als Schule brauchen, und den Lehrpersonen versuche ich politische Entscheide zu erklären, die sie vielleicht im ersten Moment nicht nachvollziehen können.

Was ist die wichtigste Kompetenz, die eine Standortleiterin mitbringen oder entwickeln sollte?

Die Beziehungsfähigkeit. Es ist essenziell, tragfähige Beziehungen zu pflegen – ich als Schulleiterin zu den Lehrpersonen und die Lehrpersonen zu ihren Schülerinnen und Schülern. Aus der Hattie-Studie1 wird ersichtlich, dass die Beziehungen zu den Schulkindern sehr wichtig sind. Gerade Kinder, die schwierige Situationen erleben, profitieren von guten Beziehungen, da sie im Zwischenmenschlichen einen Halt bekommen, der sie stark für ihr Leben macht.

Eine gute Standortleitung behält den Überblick, setzt Prioritäten und koordiniert. Wichtig finde ich auch: Als Standortleiterin bin ich nicht die Hauptfigur – meine Schule funktioniert nicht ohne die Lehrpersonen.


«Mir gefällt das Bild eines Schrebergartens [..]. In der Mitte des Schrebergartens steht eine grosse Feuerstelle, an der sich alle Lehrpersonen regelmässig begegnen, um sich auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsame Projekte zu planen.»
Brigitte Studer

Welche Situation war bis jetzt die grösste Herausforderung als Standortleiterin und wie hast du diese bewältigt?

Ich habe bereits kleine und grosse Krisen überstanden. Die Pandemie habe ich als grosse Herausforderung erlebt und ebenso den Tod eines Schülers. Bei grossen Krisen greifen gewisse Mechanismen: da wird uns ein Expertenteam an die Seite gestellt. Deswegen sind grosse Krisen fast einfacher zu bewältigen – der Ablauf ist im Notfallkonzept geregelt und ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich in Krisen zur Hochform auflaufe. Ich funktioniere, es läuft und ich treffe die richtigen Entscheidungen. Schwieriger ist es, die Krise nach aussen zu kommunizieren: ich möchte genügend Informationen geben, aber gleichzeitig die betroffenen Personen schützen.

Eine Herausforderung, die mir oft begegnet, ist der Umgang mit Konflikten im Schulalltag. Ich beschäftige mich oft damit, was es braucht, damit sich alle wohlfühlen. Dies ist eine Frage, die sich nicht abschliessend beantworten lässt. Zu Themen wie Gewaltprävention, Gewaltfreie Kommunikation, neue Autorität und SEE Learning besuchen wir regelmässig Weiterbildungen.

Es ist dir also ein grosses Anliegen, dass sich alle wohlfühlen. Du bist nicht eine Schulleiterin, die einfach ihre Linie durchziehen möchte, sondern du holst das Team zu dir ins Boot, oder?

Ich habe das Bild vom Boot aufgegeben. Dabei stelle ich mir nämlich ein grosses Schiff vor, auf dem jede und jeder seine eigene Kabine hat und es fast unmöglich ist, auszuweichen, wenn es Spannungen gibt. Und Spannungen kommen vor, das ist ganz normal. Es gilt, die Fähigkeit zu entwickeln, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen und Kompromisse zu finden. Manchmal heisst das auch, zu einem Vorschlag «Ja» zu sagen, der tief in mir kein volles «Ja» erzeugt – das ist Kooperation. Mir gefällt das Bild eines Schrebergartens – jede Lehrperson hat mit ihrer Klasse ein eigenes Gärtchen, das sie mit den Schülerinnen und Schülern zusammen bepflanzt und pflegt. In der Mitte des Schrebergartens steht eine grosse Feuerstelle, an der sich alle Lehrpersonen regelmässig begegnen, um sich auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsame Projekte zu planen.

Was schätzt du besonders an deinem Kollegium?

Die wohlwollende, wertschätzende und flexible Art. Ich schätze es, dass es den Lehrpersonen in meinem Kollegium gelingt, auch einmal ein «Füfi» gerade sein zu lassen, aufeinander zuzugehen und bei einer Tasse Kaffee das Verbindende zu geniessen.

Welche Momente geniesst du besonders bei deiner Arbeit?

Diese gerade beschriebenen Kaffee-Momente. Dafür nehme ich mir auch gerne Zeit. Ich geniesse die persönlichen Gespräche, die dabei entstehen.

Gibt es etwas, was du aus deiner Zeit als Lehrerin vermisst?

Ja, ich vermisse die Kinder mit ihren strahlenden Augen, die sich jeden Morgen auf den Unterricht freuen. Ich habe auch in meiner jetzigen Position mit den Kindern zu tun. Ich besuche Klassen, wenn etwas nicht rund läuft und berate lösungsorientiert. Ich frage die Schülerinnen und Schüler, was gerade nicht gut läuft und wie wir zusammen üben können, dass es in Zukunft besser laufen darf. Es ist schön, gemeinsam etwas mit den Klassen zu entwickeln. So kennen mich die Kinder und grüssen mich, wenn sie mich im Schulhaus sehen.

Welche Ziele verfolgst du mit deinen beiden Standorten?

Es ist mir sehr wichtig, Visionen zu haben. Dadurch wird der Zusammenhalt gestärkt und wir kommen gemeinsam weiter. Wir arbeiten gerne in stufenübergreifenden Projekten zusammen. Beispielsweise gingen der Kindergarten und die 4. Klasse gemeinsam in den Wald und bald wird das Schulfest stattfinden, an dem die 200 Kinder zusammen einen Tanz vorführen. In der Weihnachtswoche haben Kinder in gemischten Altersgruppen vom Kindergarten bis zur 6. Klasse zusammen gebacken, Sterne gebastelt und Kerzen gegossen.

Ich schätze flexible Zusammenarbeitsstrukturen. So habe ich mich intensiv mit agilen Arbeitsweisen beschäftigt und entwickle aktuell ein Dokument, das fünf Schwerpunkte für eine gelungene Zusammenarbeit definiert. Dieser Arbeitsrahmen und auch die Vision sollen den Lehrpersonen entsprechen und sie unterstützen.

Brigitte, was würdest du einer Person raten, die mit dem Gedanken spielt, in die Schulleitung zu gehen?

Sie soll sich gut informieren, welche Aufgaben auf sie zukommen würden, und sich überlegen, ob sie die dazu passenden Fähigkeiten mitbringt. Und dann soll sie es ausprobieren. Sollte es nicht klappen oder der Job nicht den eigenen Erwartungen entsprechen, ist es jederzeit möglich, wieder zu unterrichten.


«Wir dürfen scheitern und Neues darf anstrengend und frustrierend sein. Dies zu akzeptieren, ist eine wichtige Fähigkeit.»
Brigitte Studer

Was ist heute das Wichtigste, das Kinder und Jugendliche im Kindergarten oder in der Schule lernen sollten?

Softskills. Bereits als wir uns noch am alten Lehrplan orientierten, habe ich einen grossen Schwerpunkt auf die Entwicklung von sozialen, personalen und methodischen Kompetenzen gelegt. Schon als junge Lehrerin war mir bewusst, dass sich das Wissen in den letzten hundert Jahren so stark vervielfacht hat, dass wir irgendwann nicht mehr die Kapazität haben werden, alles Wissen in uns aufzunehmen. Bedeutender ist es also, die Fähigkeit zu erlernen, jenes Wissen zu finden, das wir benötigen, um neue Kompetenzen zu entwickeln.  

Geht es dir darum, dass das ganze Wissen nicht mehr im Kopf gespeichert werden muss, sondern die Kinder und Jugendlichen eher lernen, wie man recherchiert?

Ja, aber natürlich sollen auch weiterhin Grundkompetenzen wie mathematische Fähigkeiten, die fest im Lehrplan verankert sind, vermittelt werden. Ich merke jedoch, dass sich Lehrpersonen manchmal zu sehr von den Lehrmitteln einengen lassen. Anstatt strikt das Zahlenbuch durchzuarbeiten, wäre es sinnvoll, auch an überfachlichen Kompetenzen zu arbeiten. Als einfaches Beispiel: Wie trainiere ich das Einmaleins? Es geht nicht nur darum, Wissen zu finden, sondern sich dieses auch aneignen zu können. Wenn du mit 30 Jahren lernen möchtest, selbst Socken zu stricken, dann kannst du dir ein Video dazu anschauen. Aber wenn du das siehst, muss es dir ja auch gelingen, die Anleitung in die Handlung umzusetzen. Beim ersten Mal wirst du wahrscheinlich scheitern. Vielleicht verlierst du mehrere Maschen und musst ein Stück wieder auftrennen und neu machen. Diese Frustration auszuhalten ist wichtig. Wir dürfen scheitern und Neues darf anstrengend und frustrierend sein. Dies zu akzeptieren, ist eine wichtige Fähigkeit.

Diese Akzeptanz des eigenen Scheiterns, sollte die auf der schulischen oder der individuellen Ebene stärker gelebt werden?

Auf beiden Ebenen. Den Mut zu haben, Neues auszuprobieren und dabei zu scheitern, ist wichtig für das Leben allgemein. Wenn wir diesen Mut nicht aufbringen, können wir uns auch als Gesellschaft nicht weiterentwickeln und wir werden für die Probleme, die wir im Moment haben, keine Lösungen finden.

Eigentlich schon fast ein perfektes Schlusswort.

(lacht) Ja.

Trotzdem noch eine letzte Frage: Was wünschst du dir für die Zukunft der Bildungslandschaft in der Schweiz?

Diese Wünsche sind alle mit finanziellen Ressourcen verbunden. Die Politik muss sich Gedanken darüber machen, wie viel ihr die Schule wert ist. Können wir als Gesellschaft überhaupt existieren, wenn wir nicht darauf achten, dass aus unseren Kindern wertvolle Erwachsene werden? Die Verantwortung liegt dabei nicht nur bei der Politik und den Schulen, sondern auch bei den Eltern. Vielleicht braucht es auch für die Eltern eine andere Begleitung. Ist die Erziehungsberatung noch das Gefäss, das die Eltern dabei unterstützt, ihre Kinder im Wachsen zu begleiten? Oder braucht es neue Gefässe? Darauf habe ich im Moment keine Antwort. Was ich aber weiss: In der Schule braucht es einfach mehr Personal. Ich höre immer wieder Sätze wie: «Vor 40 Jahren hatten wir 30 Kinder in einer Klasse und es ging.» Aber die heutige Zeit ist eine andere. Die Kinder brauchen eine individuelle Begleitung und individuelle Lösungen. Da wir im Moment Lehrpersonenmangel haben, wäre es toll, wenn jede Klasse eine Klassenhilfe bekommen könnte. Es gibt so viele Menschen, die eine Stelle suchen. Könnte man diejenigen, die sich als Klassenhilfe eignen, im Schulzimmer einsetzen, würde das auf einen Schlag das ganze System entlasten.

 

1Hattie-Rangliste: John Hattie entwickelte in seiner wegweisenden Metastudie «Visible Learning – Lernen sichtbar machen» eine Rangliste verschiedener Einflussfaktoren auf den schulischen Lernerfolg, indem er die Einflüsse aus zahlreichen Meta-Analysen in Bezug auf ihre Effektstärke untersuchte. Für mehr Infos: https://visible-learning.org