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Zwischen Berufserfahrung und Unterrichtspraxis: Der Weg eines Quereinsteigers

Obwohl der Lehrpersonenmangel nicht mehr so akut ist wie in den Vorjahren, suchen viele Schweizer Schulen weiterhin verzweifelt nach Lehrpersonen. Besonders im Bereich der individuellen Förderung und Heilpädagogik fehlen Fachkräfte. Als Reaktion auf diese Herausforderungen setzen Schulen vermehrt auf Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, die zwar wertvolle Lebenserfahrung und frische Perspektiven mitbringen, aber gleichzeitig auch das Risiko möglicher Qualitätseinbussen und einer Überlastung des Kollegiums, da sie zusätzlich begleitet werden müssen.

Raphael Studer ist einer von ihnen; nach einer Lehre als Polymechaniker, dem Zivildienst in der Pflege und einer Tätigkeit als Fitnesstrainer arbeitet er nun im zweiten Jahr als IF-Lehrer und Heilpädagoge. Daneben besucht er zwei Tage die Woche die BMS, mit dem Ziel, sich nächstes Jahr an der PH einzuschreiben. Wir haben mit ihm über den Sprung ins kalte Wasser und seinen Kaffeekonsum gesprochen und darüber, welcher Gewinn Quereinsteigende für die Schülerinnen und Schüler sind.

Raphael, erinnerst du dich noch an den Moment, in dem du beschlossen hast: «Ich gehe an die Schule, ich werde Lehrer»?

Ich habe lange im Fitnessbereich gearbeitet, aber musste für mich feststellen, dass ich mir in diesem Beruf keine gute Zukunft aufbauen kann. Auf der Suche nach einer anderen Zukunftsperspektive bin ich darauf gekommen, dass ich gerne in einem Feld tätig sein möchte, in dem ich meine vielseitigen Fähigkeiten einbringen kann. Lehrer passt da ganz gut; ich geniesse es, meinen Erfahrungsschatz an die Schülerinnen und Schüler weiterzugeben – und ich kann auch immer wieder etwas für mich mitnehmen.

Wie hast du deine eigene Schulzeit erlebt?

An die Zeit zwischen der 1. und 6. Klasse habe ich nicht mehr viele Erinnerungen. Sehr prägend war jedoch die Oberstufe; ich hatte eine gute Zeit, schloss Freundschaften und wurde von zwei jungen Lehrpersonen unterrichtet, die gerade frisch von der PH kamen. Rückblickend betrachtet, muss ich sagen: Sie haben einen guten Job gemacht!

Jetzt arbeitest du bereits im zweiten Jahr als IF-Lehrer und Heilpädagoge und besuchst daneben die Berufsmaturitätsschule – und kürzlich ist dein Sohn auf die Welt gekommen! Ganz ehrlich: Wie viele Tassen Kaffee trinkst du pro Tag?

Aktuell natürlich sehr viele; es kommt ein bisschen darauf an, wie erholsam die Nacht war. Es ist eine intensive, aber auch eine sehr spannende Zeit. Ich glaube, ich brauche diese Herausforderung und es gefällt mir, auf etwas hinzuarbeiten. Meine Ziele sind es, meine Schülerinnen und Schüler gut durch das Schuljahr zu bringen und nächstes Jahr die PH zu besuchen.

Hast du das Gefühl, du musst gerade gewisse Dinge zurückstecken?

Zurückstecken würde ich es nicht nennen. Ich muss nur alles effizienter machen. Der Google Calendar ist mein bester Freund geworden. Ich muss wirklich genau planen, wann, wo und wie ich etwas mache. Ich habe mittlerweile ein System entwickelt, wie ich Sachen gut und schnell vorbereiten kann – zum Beispiel das Essen für den nächsten Tag, den Unterricht und auch meinen Trainingsplan.

Wie hast du den Einstieg an der Schule erlebt?

Gestartet bin ich als Musiklehrer und Lehrerassistent in der Wohnschule Dentenberg. Es war sehr herausfordernd und hat mir trotzdem sehr gefallen. Nach drei Monaten konnte ich in Uetendorf als IF-Lehrer und Heilpädagoge an einer 9. Klasse starten. Da wurde ich voll ins kalte Wasser geworfen; ich hatte teilweise absolut keinen Plan und ich denke, man hat mir angemerkt, dass mir manchmal das Fachliche fehlte. Ich musste plötzlich Förderpläne und Bildungspläne schreiben und hörte Fachausdrücke, die ich nicht kannte. Trotzdem hat es gut funktioniert, vielleicht, weil mir das Zwischenmenschliche sehr liegt. Jetzt, im zweiten Jahr, fühle ich mich schon viel gewappneter und ich habe das Gefühl, die Lücke ist ein bisschen kleiner geworden. Trotzdem hat eine fundierte Ausbildung natürlich ihre Daseinsberechtigung. Ich besuche ja selbst die BMS und frische dort mein Wissen in Fächern auf, die ich das letzte Mal in der Grundschule hatte, damit ich den Schülerinnen und Schülern so etwas wie das «Passé composé» erklären kann.

Was ist dir im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern wichtig?

Mir ist es wichtig, auf die Schülerinnen und Schüler einzugehen und genau zu schauen, was sie brauchen. Nicht nur auf ein bestimmtes Fach bezogen, sondern auch überfachlich: Was braucht das Gegenüber, um motiviert zu sein, und damit besser zu lernen? Generell bin ich in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler sehr optimistisch, gerade was die Suche nach einer Lehrstelle und den Übertritt in den Lehrbetrieb betrifft. Wenn sie in die Lehre kommen, werden sie noch einmal einen riesigen Entwicklungssprung machen – geistig und in ihrer Persönlichkeit. Deswegen bin ich mir sicher; die meisten Schülerinnen und Schüler packen ihre Lehre.

Inwiefern sind Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger eine Bereicherung? Für die Klasse, das Kollegium, die Schule?

Jemand, der bereits Berufserfahrungen mitbringt, kann vielleicht etwas beitragen, das an der PH nicht explizit vermittelt wird. So konnte ich durch meinen Hintergrund als Polymechaniker letzthin einen Lehrer im TTG unterstützen; ich konnte ihm zeigen, wie er die Drehbank bedienen kann. Auch das Jahr in der Pflege hat mich sehr geprägt – ich habe gelernt, mit unglaublich stressigen Situationen umzugehen, und habe mir dadurch vielleicht ein dickeres Fell zugelegt, als Lehrpersonen, die frisch von der PH kommen und noch nicht wirklich wissen, wie sie damit umgehen sollen, wenn es brennt.

Welche Unterstützung bekommst du als Quereinsteiger? Wo holst du dir Informationen?

Die PH bietet Einstiegskurse an. Ich werde bald einen besuchen, der sich speziell an Heilpädagoginnen und Heilpädagogen richtet. Ich wurde zudem von einer externen Person von der PH Bern unterstützt, die mir mit den ganzen Dokumenten und Formularen geholfen hat, und ich konnte ihr immer zeigen, was ich für die nächsten Lektionen geplant hatte, wo meine Schülerinnen und Schüler stehen und meine offenen Fragen platzieren. Das hat mir sehr geholfen.

In welchen Momenten spürst du: «Genau deswegen mache ich den Job»?

Der Abschluss vor den Sommerferien war so ein besonderer Moment. Wir hatten im Vorfeld bereits überlegt, ob einige Schülerinnen und Schüler das 10. Schuljahr besuchen müssen, und trotzdem haben schlussendlich alle eine Anschlusslösung gefunden. Ich bin dankbar, dass ich ihnen helfen konnte. Es war eine intensive Zeit; wir haben sehr viele Bewerbungen rausgehauen und ich habe sie ermutigt, bei den Lehrbetrieben anzurufen und dranzubleiben.

Gehen Schulen ein Risiko ein, wenn sie Menschen ohne Lehrdiplom einstellen?

Nein, überhaupt nicht. Gerade in meiner Funktion kann man gut quereinsteigen – wenn man das nötige Feingefühl für die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler mitbringt. Als Klassenlehrperson finde ich den Quereinstieg schwieriger, aber auch nicht unmöglich. Schlussendlich müssen wir mit den Möglichkeiten arbeiten, die wir haben. Der Lehrpersonenmangel ist nun mal Realität. Ich bin der Meinung, dass die Menschen, die quereinsteigen, aber auch die Absicht haben sollten, das Lehrdiplom nachzuholen.

Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger bekommen in der Schweiz 20 % weniger Lohn. Kannst du das nachvollziehen?

Ich kann nachvollziehen, dass wir weniger Lohn bekommen, aber 20 % finde ich zu viel. Das wäre so, als würde ich bei einem vollen Pensum einen Tag pro Woche gratis arbeiten. Vielleicht könnte man den Abzug auf 10 % senken und, sobald man die PH besucht, ganz streichen.

Du möchtest nach der BMS die PH machen und das Diplom nachholen. Welche Art von Lehrer möchtest du in einigen Jahren sein? Hast du ein Vorbild?

Nein, ich habe nicht wirklich ein Vorbild. Ich bin mir auch noch nicht sicher, ob ich nach der PH noch den Master in Heilpädagogik anhängen werde. Was ich sicher weiss, ist, dass es mir sehr gefällt, mit Jugendlichen im Zyklus 3 zu arbeiten. Ich möchte ein Lehrer sein, der eine gute Bindung zu den Schülerinnen und Schülern hat und ihnen Selbstständigkeit und Freiheit mitgibt. Trotzdem soll ihnen auch bewusst sein, dass sie gewisse Pflichten zu erfüllen haben.

Was würdest du anderen Menschen raten, die sich überlegen, den Sprung an die Schule zu wagen?

Versuch es unbedingt, wenn du die Möglichkeit hast! Man muss sich aber wirklich auch bewusst sein, dass der Beruf der Lehrperson einer ist, den man leben muss; mit dem man sich identifizieren muss – aus einer Leidenschaft heraus. Mit dieser Einstellung machst du dir den Alltag leichter, denn deine Schülerinnen und Schüler merken, wenn du eigentlich nur halbherzig dabei bist. Als Lehrperson nimmst du deinen Alltag auch immer ein stückweit mit nach Hause. Dafür muss man bereit sein.

Was wünschst du dir für die Schulzeit deines eigenen Sohnes?

Ich wünsche mir, dass er in der Schule lernt, selbst zu denken und zu recherchieren – das ist viel zukunftsorientierter, als das Auswendiglernen, das in unserer Schulzeit noch so beliebt war. Ich hoffe, dass er in der Schule eine gute Zeit hat und nach der Schulzeit bereit für das Leben ist. Ich sehe da aber auch eine gewisse Verantwortung bei den Eltern; man kann sein Kind nicht in die Schule schicken und erwarten, dass es danach alles über das Leben weiss. Die Schule bildet eine Basis und als Eltern können wir darauf aufbauen und unserem Kind zusätzlich vermitteln, was wir als wichtig erachten, und unsere eigenen Leidenschaften und Fähigkeiten mitgeben.